Der Gigant – il gigante

Die große Sensation

Auch in diesem Jahr ging es trotz aller Widrigkeiten in ein kleines Ferienhäuschen in die Maremma am Rande eines mir bekannten kleinen Schildkröten-Habitates.

Wie jedes Jahr ging ich frühmorgens für zwei bis drei Stunden in die Macchia bzw. auf Trampelpfade durch diese, um nach der einen oder anderen Testudo hermanni hermanni Ausschau zu halten und ggf. von ihr ein Foto zu machen.

In diesem Sommer fand ich täglich ein bis vier Tiere, teils alte Bekannte, bei der Nahrungssuche oder bei einem kurzen Sonnenbad. Während die Tiere auf der höhergelegenen Kuppe dieses Habitats eher kleinere Adult-Größen aufwiesen (Weibchen geschätzt zw. 500g und 8oog, Männchen um die 400g), so waren die ausgewachsenen Tiere in der Senke deutlich größer und auch schwerer ( Weibchen bei 500g bis etwa 1400g, Männchen bei etwa 500g bis 600g ). Diese Schätzungen begründen sich auf meine Jahrzehnte lange Erfahrung und auf 100g mehr oder weniger kommt es hier auch nicht an. Markant ist der Größenunterschied im selben Habitat, aber mit etwa 50m Höhenunterschied allemal. Allzu schnell verging unsere Zeit auf dem Hügel.

Am vorletzten Tag unseres Aufenthaltes machte ich morgens eine letzte Tour durch das mir bekannte und unserem Ferienhäuschen nahe Habitat, um noch einmal dort ansässige Schildkröten zu beobachten. Ich sah nur ein Männchen, welches ich in den Tagen zuvor schon mehrmals beobachten durfte, war aber durch umfangreiche Funde der vergangenen zwei Wochen doch recht satt und zufrieden.

Es war ein schwül-heißer Morgen und ein Gewitter kündigte sich an. Zur Mittagszeit schüttete es wie aus Eimern für etwa eine Stunde und dann kam, wie am Mittelmeer üblich, die Sonne wieder zum Vorschein. Was auch immer es war, es zog mich gegen 14.00 Uhr nochmals ins Habitat.

Ich wollte zu einer Lichtung, auf der ich eigentlich immer fündig wurde und auch nicht wirklich viel Zeit im Habitat verbringen, schließlich bin ich bereits am Morgen unterwegs gewesen. Also nahm ich eine Abkürzung durch einen wirklich dunklen Waldabschnitt, in welchem ich noch nie eine Schildkröte gesehen hatte. Stein- und Korkeichen, dichtes Gestrüpp und der gesamte Boden bewachsen mit dem bei uns allseits verteufelten, ach so giftigen Efeu.

Während ich sonst schleiche, um kaum Bodenvibrationen auszulösen und somit ruhende Schildkröten nicht verschrecke und Aspisvipern die Möglichkeit zur gemächlichen Flucht ermögliche ( genau dann sind sie nämlich wenig gefährlich und schlängeln sich wenige cm vor den Stiefeln davon…), eilte ich dieses Mal schnellen Schrittes über den kleinen Trampelpfad.

Plötzlich hielt ich inne.
Ein mir bekanntes Geräusch zweier aufeinander stoßender Panzer. Und da sah ich sie. Zwei Schildkröten, die sich gegenüberstanden. Schon aus der Distanz von etwa 15m war ein deutlicher Größenunterschied zu erkennen.

1
2

Ich ging langsam näher und traute meinen Augen nicht. Was für ein riesiges Weibchen saß da vor einem normal großen, etwa 500g schweren Männchen.

Da ich weder Metermaß noch Waage mit mir führte, konnte ich mich nur auf meine fast 40 jährige Erfahrung verlassen. Auf 100g mehr oder weniger kommt es hier auch nicht an!

Was für ein riesiges Weibchen hatte ich da vor mir! Das war die größte Testudo hermanni hermanni, die ich je sah! Sie hatte über 20cm Plastronlänge und ein geschätztes Gewicht von mindestens 2kg.

Ihr Carapax war gezeichnet von den vielen Jahren ihres Daseins, Begegnungen mit aufdringlichen Artgenossen und Fressfeinden, vielleicht sogar leichten Frostschäden.

1
1
1
1

Uralt. Uralt und riesig. Einfach nur riesig! Lang! Breit! Hoch!Unbeschreiblich!

Noch nie hatte ich von einem so großen Tier gehört, es geschweige denn gesehen. Sofort erinnerte ich mich an eine männliche Testudo marginata im Centro di Carapax im Jahre 2009 mit laut Aussage des damaligen Leiters 15 kg!

Ich war total aufgeregt und versuchte Fotos mit meinem Handy zu machen. Natürlich fand ich keine perfekte Position und die Bilder verwackelten, zumal die Modelle sich hartnäckig weigerten, still sitzen zu bleiben. Meine Autan-Flasche hat eine Länge von 17cm und diente in Ermangelung eines Maßbandes zum Größenvergleich.

1
1

An diesem Tier war alles groß. Die Krallen, die Extremitäten überhaupt, die Schuppen und sie hatte einen markant ausgeprägten Schädel…. wie ich ihn nur von Männchen kenne…

Überhaupt…warum ließ sie das deutlich kleinere Männchen so stramm stehen?

Meine Störung nutzte das kleinere Männchen sofort zur Flucht und die Große wollte sofort hinterher um ihm in die Hinterbeine zu beißen. Das kenne ich von Weibchen ja eher nicht, hier ging es ja auch nicht um einen bevorzugten Eiablageplatz.

Sollte diese riesige und scheinbar uralte Testudo hermanni hermanni gar kein Weibchen sein? Und so tat ich etwas, was ich sonst grundsätzlich unterlasse und auch entschieden ablehne, denn gerade im Sommer sollen Schildkröten nicht stressbedingt Urin ablassen und somit wichtige Flüssigkeit verlieren! Doch nach dem Gewitter waren überall kleine Pfützen, Wasser sollte nicht das Problem sein…

Ich hob das Tier kurz an um einen Blick auf den Bauchpanzer zu werfen und mir stockte der Atem.

Das Weibchen war ein Männchen!

1
1

Und was für ein schwerer Kerl!
Schnell machte ich ein Foto und setzte das Tier wieder ab.

Ich hatte keine Zeit, es genau einzustellen oder erneut Bilder zu machen. Die Störung sollte nur wenige Sekunden dauern und mein schlechtes Gewissen plagte mich eh schon.

Das muß Il Gigante, wie ich ihn fortan bei Erzählungen nannte, gespürt haben, denn er verzog sich ins Efeu und dort habe ich ihn auch belassen.
Ich hatte genug in sein Leben eingegriffen und ein Wildtier hat ein Recht auf ein ungestörtes Dasein.

Ich mußte mich mit den wenigen Bildern zufrieden geben und natürlich waren sie nicht das, was ich mir gewünscht hätte.

Es ist mir nicht wirklich gelungen, den wahren Größenunterschied beider Tiere darzustellen und allein die Autan-Flasche mag vermitteln, welch ein Ausmaß Il Gigante hatte und hat.


Doch erfahrene Halter werden es möglicherweise doch erkennen können.

Es ist mir kaum möglich, meine Aufregung zu beschreiben, meine Glückseligkeit und Dankbarkeit, einen solch seltenen Anblick erleben zu dürfen.

Im weiteren Verlauf des Spazierganges sah ich 6 weitere adulte Testudo hermanni hermanni, fast nur Männchen, während ich in der Zeit davor fast nur adulte Weibchen zu Gesicht bekam.

So viele Tiere an einem Tag im Juli und eines davon ein wahrer Gigant!

Ich darf sagen, an diesem Tag war ich mit Sicherheit einer der glücklichsten Menschen auf diesem Planeten, fernab des Alltags und einer Pandemie, die uns alle ein anderes Leben lehrt.

nach Oben